Bundesverfassungsgericht lässt Neuwahl zu

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Bundesverfassungsgericht lässt Neuwahl zu

Beitrag von Überlinger »

Bundesverfassungsgericht lässt Neuwahl zu

Karlsruhe - Der Weg für die Neuwahl des Bundestages ist frei: Das Bundesverfassungsgericht wies die Klagen von zwei Abgeordneten gegen die vorgezogene Wahl am 18. September ab. Die Einschätzung von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), er habe keine verlässliche Mehrheit für seine Reformprojekte, sei wegen des Streits um seine "Agenda 2010" und der Stimmenverluste bei mehreren Landtagswahlen plausibel.

Eine andere Einschätzung sei "nicht eindeutig vorzuziehen", befand der Zweite Senat. Als einziger der acht Richter stimmte Verfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch gegen die Zulassung der Neuwahl. (Az.: 2 BvE 4/05 u. 7/05 vom 25. August 2005)

SPD, Union und Bundespräsident Horst Köhler begrüßten in ersten Stellungnahmen die Entscheidung. "Die Wähler haben jetzt die Möglichkeit, die Zukunft unseres Landes mitzubestimmen", sagte Köhler in Hannover. "Ich rufe sie auf, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen." Die Parteien müssten ihre politischen Konzepte nun "umfassend und ehrlich" darlegen. Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Edmund Stoiber sagte, nun sei "Gott sei Dank der Weg frei für den notwendigen Wechsel in Deutschland." Der SPD- Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz sagte, das Urteil werde auch über den Tag hinaus bedeutsam und wichtig sein.

Die Karlsruher Richter räumten dem Kanzler einen weiten Spielraum bei der Beurteilung seiner politischen Handlungsfähigkeit ein. Solche Einschätzungen hätten "Prognosecharakter" und seien an höchstpersönliche Wahrnehmungen gebunden. Der nicht offen gezeigte Entzug des Vertrauens lasse sich in einem Gerichtsverfahren nicht ohne weiteres feststellen. "Ob der Kanzler über eine verlässliche parlamentarische Mehrheit verfügt, kann von außen nur teilweise beurteilt werden", heißt es in dem Urteil. Deshalb könne das Gericht die Einschätzung des Kanzlers, er sei für seine künftige Politik nicht mehr ausreichend handlungsfähig, nur eingeschränkt überprüfen.

Damit bestätigte das Karlsruher Gericht die Entscheidung von Köhler. Er hatte am 21. Juli nach der von Schröder gezielt verlorenen Vertrauensfrage den Bundestag aufgelöst und eine Neuwahl angesetzt. Die Bundestagsabgeordneten Werner Schulz (Grüne) und Jelena Hoffmann (SPD) hatten dagegen Organklage eingelegt. Nach ihrer Ansicht waren die Voraussetzungen einer solchen "unechten" Vertrauensfrage - die Lähmung der politischen Handlungsfähigkeit durch fehlenden Rückhalt in den eigenen Reihen - nicht gegeben. Schröder genieße nach wie vor das Vertrauen der Regierungskoalition, hatten sie in der mündlichen Verhandlung am 9. August argumentiert.

Der Senat unter Vorsitz des Vizepräsidenten Winfried Hassemer machte deutlich, dass eine "unechte" Vertrauensfrage mit dem Ziel einer vorgezogenen Wahl grundsätzlich zulässig ist. Das gelte auch vor einem offenen Zustimmungsverlust des Kanzlers im Bundestag - und zwar dann, wenn der Regierungschef durch mangelnden Rückhalt gezwungen sei, von wesentlichen Inhalten seines politischen Konzepts abzurücken. Ein solcher interner Vertrauensverlust müsse im politischen Prozess - und auch bei der Stellung der Vertrauensfrage - nicht notwendigerweise offen gelegt werden.

Das Bundesverfassungsgericht könne diese Einschätzung schon aus praktischen Gründen nur eingeschränkt überprüfen. Außerdem vertraue das Grundgesetz auf ein System gegenseitiger Kontrolle durch die Verfassungsorgane; an der Neuwahlentscheidung seien neben dem Kanzler auch Bundestag und Bundespräsident beteiligt. "Diese haben es jeweils in der Hand, eine Auflösung des Bundestags durch ihre eigene Entscheidung zu verhindern." Das Gericht sei bei seiner Prüfung auf allgemein zugängliche Tatsachen angewiesen. Bei der Begründung der Vertrauensfrage habe Schröder auf "heftige Debatten" in der SPD verwiesen, die durch Stimmenverluste bei sämtlichen Landtagswahlen und bei der Europawahl seit dem Beschluss der Agenda 2010 entstanden seien.

Mit deutlichen Worten wandte sich Verfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch gegen die Zulassung der Neuwahl durch das Bundesverfassungsgericht. Die Auffassung der Senatsmehrheit schwäche die Stellung des Bundestags, schrieb Jentsch in seiner abweichenden Meinung, mit der er gegen das Votum der Mehrheit des Zweiten Senats stimmte.

Quelle: dpa

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